WILL HALL

Von Dr. Karl Schorn

Ein Deutungsversuch seiner religiösen Kunst

Rheinische Wirtschaftnachrichten – 14 August 1931

Texte Karl Schorn 1931 Will HALL
Texte Karl Schorn 1931 Will HALL

Der Nachvolgende Aufsatz über den Neusser Maler Will HALL dürfte insofern für das Neusser Publikum von besonderen Interesse sein, als Hall dem nächst in Neuss ausstellen und zu gleicher Zeit bei den Neusser Heimatfreunden ( Arbeitsgemeinschaft Neusser Künstler ) ein Praktikum über « Technik der Malerei « geben wird ». Die Redaktion

Junge Schöpfung wuchert ungestüm aus chaotischem Getrümmer. Ruin, Fäulnis, Verfall und Verderbtheit sind ein Dung, aus dem die bunten Gärten neuen Weltsinns treiben. Magische Träume, zu fremdem Licht aufblühend, umranken die morschen Gerüste der Zeit. Groteske zerreisst die graue Decke philistrosen Alitags, entblosst die Damonenfratze des gewohnt Gewohnlichen, gemeinsam Gemeinen. Schrille Dissonanz zerfetzt den einlullenden Singsang aller Zeremonienmeister der Welttragodie. Aber doch nicht Sensation; auch der Sonderfall, der im Rampenlicht des Diesseits-Daseins erscheint, bleibt dem allgemeinen Gesetz der bewirkenden Hintergriinde verhaftet, von dort aus bewegt. Und auch nicht Tendenz; ohwohl diese Kunst oft erschutternd sozial und (durch ein mystisches Fluidum) fast immer religios wirkt; aber diese Wirkung setzt schon dort ein, wo Wirkungsabsicht noch nicht oder schon nicht mehr Gültigkeit hat. Vielmehr spüren wir in Hall's künstlerischcm Schaffen eine verwegene Abenteurerlust an der ungeheuren Phantastik der Welt, an Gefahrlichkeiten von Gipfeln und Abgründen, an unausschopfbaren Moglichkeiten nach hüben wie drüben, von denen uns nichts verkargt werden soll. Dass es immer wieder das Russische ist, Landschaft und Mensch, was diesen Kunstler in Bann schlagt, darin erblicken wir eine Art Wahlverwandtschaft; Allrusslands, des palbgestalten Ungeheuers unausschopfliche Seele, worin das Kind und der Berserker, das Tier und der Gott dicht beisammen hausen, bietet sich ihm als ein Element an, das noch vom schopferischen Werde durchgart, alle Moglichkeiten weltwendender Sinngestaltung keimhaft in sich birgt.

Zuversicht, die in dem Wissen um die Kontrapunktik alles Seins und Werdens gründet: Da verliert der Damon seine Fruchtbarkeit, der Engel seine Unnahbarkeit; Diener und Gebrauchte sind beide, Werkzeug in der Hand des Linen, Ganzmachers und Vollenders, der den Ring schliesst, die Pole zusammenschweisst, der Seraph und Satan zum Kusse zueinanderbeugt.

Im Spiegel des Kunstwerks erkennen wir diese Ganzheit schaffende Wechselbedingtheit der Pole als den Rest Chaos, der jeder Keimzelle kosmischer Ordnung anhaftet; als das kosmische Kristall wiederum, das verborgen in jeder chaotischen Trübe leuchtet. Diese dynamische Spannung von Chaos zu Kosmos lasst das Hall'sche Kunstwerk als Prozess, Vorgang, Akt, Ereignis, als Gleichnis des Werdens erscheinen. Erscheinung als Zustand ist als Tauschung entlarvt; hinter dem Abgleiten der Erscheinungen erst wird Ufer und Grenze, das Tragende, ruhend Bewirkende, wird Gesetz und Ur-Sache entdeckt. So wird alle Erscheinung Durchblick und Durchlass; Tor, das entriegelt, Buch, das entsiegelt wird; Rune, Ratsel, Geheimformel, deren Zeichen nicht entziffert, doch deren Sinn gedeutet; deren Grammatik nicht erklart, doch deren Zauber machtig gemacht werden kann.

Nicht als ob Hall Verachter der naturhaften Erscheinung ware; in zahllosen Skizzen und Studien hat er sich mit der naturalistisch gemeinten Realitat der Schopfung auseinandergesetzt; aber diese Realitat ist ihm nur Koulisse, die durchschaut, Zeichen, das gedeutet sein will. Mit Forderungen tritt dieser Künstler an die Natur heran. Was er von solchen Erobererfahrten hinter die Dinge mit heimtrug, als schopferischen Grundwillen, urhebendes Gesetz, weltfügende Norm, das verwirklichte er jenseits und unabhangig von allem erfahrharen Weltinhalt als reine Form in seiner abstrakten Kunst; um dieses absolute Gestaltungsprinzip dann wieder in die Erscheinung hineinzutragen und sie so erst aus dem Banne der Maja zu losen und dem Urhebenden zu verflechten; um sie erst so zum Sinnbild der wahren Wirklichkeit zu verdichten, d. h. dem Bewirkenden selbst wieder zu verwurzcln. Es ist die heimliche Mathematik in Halls Bildern, worin sich diese schopferische Gesetzmassigkeit von hinter den Dingen her ausspricht; eine Mathematik freilich, die nicht nachzurechnen; deren Formel, sie darin einzufangen, noch nicht gefunden, die organisch gebunden ist.

Erblickten wir Halls Kunst vorhin als Spiegelung der immerwahrenden Schopfung, darin der Kreislauf des Werdens von Chaos zu Kosmos und von Kosmos zu Chaos sich schliesst, so sehen wir jetzt auch jene Spirale sich schliessen, die aus dem Vordergrund der Erscheinungen in die urhebenden Hintergründe und von dort zur beide umfassenden Mitte sich kehrt. Halls Wille zu zyklischer Abwandlung, gliedmässiger Verkettung von Bilderfolgen, darin das rhythmische Gesetz eines Schöpfungsprozesses schaubar werden soll, ist notwendige Auswirkung und zugleich Bestätigung solcher allem Letzten zudrängenden Art.

Und einzig aus diesem Aufgeschlossensein zum schöpferischen Jenseits hin, aus dieser Blutsverbundenheit mit dem Geäder des Weltschosses nehmen wir das Recht, Halls Kunst als religiöse zu kennzeichnen. Denn ob religiöse oder nichtreligiöse Kunst, darübei entscheidet keineswegs Stoff, Inhalt, Motiv, sondern einzig innere Haltung, Richtungswille, Wesenstrieb. Das Religiöse bedeutet hier nicht thematische Umgrenzung, prägt vielmehr Wertung, setzt Rangstufe, schafft sphärische Ordnung von Kräften höheren und minderen Grades; und erwächst schliesslich nur im Bereich eines Menschentums, das aus göttlicher Tiefe genährt ist, und das, wie den Dichter vom Poeten, den Künstler vom Artisten scheidet.

Als Beispiel für Halls religiöses Kunstschaffen sei im Folgenden auf seinen Kreuzweg hingewiesen. Dieser Zyklus, dessen in Kreide ausgeführte Entwürfe der endgültigen Darstellung im Zusammenhang harren, stellt schon als Idee eine künstlerische Erfindung hohen Ranges dar. Auf szenische Abwicklung des historischen Vorgangs ist verzichtet; der Schauplatz des Geschehens ist aus der Historie ins zeitlos Ewige hinüberverlegt; das Menschenantlitz wird zum Diesseits geöffnete Bühne, auf der jenseitige Geschehnisse zur Darstellung gelangen. Diese Gesichter werden zu Gesichten, in denen mystische Aggregatzustände des Seelischen, Mischungsvorgänge des Göttlichen und Stanischen sichtbar werden, die vom Gottmenschentum bis zum Diabolischen reichen; es sind Schlachtfelder des Zwischenreichs, in dem Engel und Dämonen aufeinanderstossen; wo der ewige Kampf zwischen Erlösendem und Verdammendem, Begnadung und Verfluchung, Gottaufgeschlossenheit und Satanverfallenheit bis zur letzten Entscheidung ausgefochten wird.

Da ist ein Schweisstuch der Veronika mit einem Heilandsgesicht, das dem Letzten an malerischer Ausdrucksmöglichkeit von Seelischem nahekommt. Die Maske des Leiblichen schon aufgelöst, verwischt; deren Begrenztheit entrückt, erscheint dieses ‚Gesicht' aus einem. Jenseits alles Psychologischen, ist nicht zu entziffern. Aber das ganze Geheimnis des Gottmenschentums taucht wie unter Schleiern dahinter hervor. Ein Sterbender Christus am Kreuz erfährt durch Verzicht auf das sinnliche Hilfsmittel des Farbigen letzte Verinnerlichung; es ist ein Zurücktasten nach dem magischen Seelengesicht; Zurücktauchen des Menschenantlitzes in das Gottgesicht, zugleich Verhüllung und Offenbarung, Runenzeichen vor den Toren des mystischen Urgrundes. Dann ein Bildnis der Maria, fast nur Skizze; doch alle Zerrissenheit einer Mutter der Schmerzen, alle Grösse der Mater Dei ist in diesen sparsamen Zügen verwirklicht. Mütterlichkeit, ihres Leibgeborenen beraubt, bereitet sich zur neuen grösseren Mutterschaft: Mystischer Hort alles Bergens und Hegens, Zuflucht aller zur Wiedergeburt berufenen Kreatur zu sein. Das Bildnis der Veronika, ein Antlitz wie irdische Trümmerstädte; doch zwischen Verfall keimt Verklärung, blüht österliches Leben himmlischen Lichtern entgegen. Ein Nikodemuskopf, ganz Geschehnis, zwingendes Ereignis geworden; es ist das « Es werde Licht! » des inneren Menschen. Wiedergeburt des neuen aus dem alten Adam, der im Strahl der Gnade staunend seinen Gott erkennt — — —. Dann Köpfe von Aposteln, Juden, Schriftgelehrten, Pharisäern, Schergen, Römern.

Jedes dieser Gesichter ist Niederschrift einer Kreuzwegepisode für sich, die ins Helle oder ins Finstere führt; und als Ganzes ist es Kreuzweg der Menschheit, aller Kreatur, der Gesamtschöpfung. Hinter den Gittern leib-zeitgefangener Menschengesichter schaut das andere, das Jenseitsantlitz des ewigen Menschen durch.

Wir aber werden vor diesen Bildern gläubig, dass dieselben Mächte, die in des Menschen Seele ringend sein Antlitz prägen, auch die Züge der kosmischen Landschaft, das Antlitz der Sternbilder zeichnen. Und dass Mensch sein, heisst: Schlachtfeld sein, auf dem das Schicksal der Welt, ob Chaos oder ob Kosmos, sich entscheidet.

Karl Schorn 1893-1971 photo
Karl Schorn 1893-1971 photo

1893 - 1971