SCHLOSS in MARIGNY-BRIZAY
LA MAILLETERIE
von Paul Loskill, 1979
Als ich Will Hall kennenlernte, es war 1915, ging der erste Eindruck von seinem Habit aus. Man kann schon sagen, daß dies für damals ungewöhnlich war und allgemein auffiel. Es war dem heutigen Mao-Look ähnlich: hochgeschlossene graue Joppe, aber als Abschluß am Hals ein sogenannter Schillerkragen, lange Röhrenhosen, derbe genagelte Schuhe, im Winter oder bei Regenwetter eine Lodenpelerine. Dazu das Haar schulterlang und niemals einen Hut oder eine Mütze. Daß er auf der Straße Aufsehen erregte und oft verhöhnt und verlacht wurde, registrierte er einfach nicht. Jede Art Beförderungsmittel lehnte er für sich ab. Oft war er schon morgens um 8.00 Uhr bei mir in Düsseldorf. Sein Weg war zu Fuß von Neuss über Heerdt - Oberkassel - die Rheinbrücke, zu der Zeit die einzige Brücke auch für Fußgänger. Übrigens hatte die Pelerine innen rechts und links je eine Tasche, in der einen war immer Salz, in der anderen Pellkartoffeln oder ein Kanten trockenes Brot. Er war Antialkoholiker, Vegetarier, Nichtraucher und er entsagte allem Weiblichen. (…) Zu dieser Zeit gab es schon eine nicht kleine grafische, malerische und auch literari-sche Produktion. Seine Anfänge, die, zwar mit eigenem Duktus, in der expressionistischen Sphäre wurzelten, lagen hinter ihm, er suchte und näherte sich bereits seiner ureigenen Aussage, seiner „absoluten Malerei". Sie sollte ihm die Möglichkeit geben, Erlebnisse jeder Art, seien es optische, akustische, geistige in malerische Form zu bringen. Erstaunlich wie er mit Zähigkeit sich zu seinem Ziel hin weiterarbeitete. Es gab zwar schon den Kubismus von Braque und Picasso, den er aber ablehnte, weil er in ihm eine Sackgasse sah und keine Lösung vom Objekt. Dieser Kampf wurde unterbrochen durch einen anderen Kampf, er wurde 1916 Soldat, kam nach kurzer Ausbildung an die Front, in die Materialschlacht der Somme. (… ) Wir waren also auseinander, aber mir ging es im Frühjahr 1917 nicht anders. Ein kleines Erlebnis ist erwähnenswert. Ich war nach meiner sechswöchigen Ausbildung auf dem ersten Urlaub in Düsseldorf, besuchte die „Große Deutsche Kunstausstellung" im Kunstpalast, mußte beim Verlassen der Ausstellung militärisch einen Unteroffizier grüßen, der hinein wollte, der aber meinen zackigen Gruß erwiderte mit: Mensch Paul! - Es war Will Hall in Stoßtruppuniform, EK-Bändchen und als einziges Gepäck den Brotbeutel am Koppel, gefüllt mit Zigaretten und die Feldflasche voll Schnaps. Ja, dieser Krieg hatte uns alle umgeformt, Will Hall kam mit leichten Verwundungen davon und brachte es zum Offizier, ich wurde schwer verwundet und kam in englische Gefangenschaft. Im Jahre 1919 aus englischer Gefangenschaft zurückgekehrt, ging ich schon bald zur Kunstakademie Düsseldorf. Von Will Hall gab es kein Lebenszei-chen, bis er, ich glaube es war 1922, wieder auftauchte. Er war freiwillig in die Baltikumkämpfe gegangen, hatte russisches Land und die Menschen dort kennen und schätzen gelernt. Kartons, gefüllt mit einem reichen literarischen Werk, Zeichnungen und Notizen zu Bildideen, alle mit einfachem Material, Bleistift oder Buntstift auf Zeitungs- oder Packpapier, aber von großem Wert für sein Weiterschaffen, brachte er mit. Auf mein Anraten meldete er sich auch zur Akademie und arbeitete bei Professor Aufseeser. Einmal haben wir tagelang die in Kartons gehäuften Schätze an Bildentwürfen gesichtet und sortiert. Ich war überrascht, daß er im Dreck des Schützengrabens und der Granatlöcher oder in der Panjebude eines Ruhequartiers soviel Zeit und humanitas gefunden hatte, an seinem künstlerischen Ziel weiterzuarbeiten. Ja, seine „absolute Malerei" war da! Ich legte etliche Skizzen zur Seite und bat ihn, davon so viele wie möglich großformatig zu verwirklichen. Das tat er auch in den folgenden Jahren und einige, die ich erworben hatte, sind gottlob vor der Zerstörung durch die Bomben im zweiten Krieg bewahrt geblieben, aber das ganze übrige Werk, sein Lebenswerk wurde zerbombt. Zu denen, die ich erwarb, gehörte auch das „Reiterlied" (1918), ich glaube, es ist vielleicht das erste Werk, „absoluter Malerei". Es basierte auf einem akustischen Erlebnis: er steht in der Trübe einer winterlichen Morgendämmerung im Graben und hört drüben bei den Russen den Gesang einer Kavallerietruppe auf dem Marsch. Es sind, wie bei vielen russischen Soldatenliedern, Klänge voll Lebensfreude, gepaart mit Todesnähe, ja Todesverachtung, diszipliniert durch den Marschrhythmus. Er sah diese Truppe nicht, also ein rein akustisches Erlebnis wurde hier auf der Leinwandfläche in eine malerische Form gebannt. Das war, was er immer gewollt hatte, und hier hat er es gekonnt und erschaffen, es wurde reine Schöpfung, die Freiheit der Aussage, nicht mehr gebunden an Objektdarstellungen. So hat er in den zwanziger Jahren viele Werke seiner absoluten Malerei hingestellt; da sich so gut wie keine Käufer dafür fanden, wurden fast alle später ein Opfer der Bomben. Aus der Baltikumzeit stammten auch die Erlebnisse zu der Pastellserie „Russland", bei der er aber nicht auf das Gegenständliche verzichtet hat, weil er hier eine Serie malerischer Folklore schaffen wollte, wobei es ihm auf die Bewahrung des Volksliedhaften ankam. Es ist dies eine Serie, die unbedingt zusammenbleiben muß, weil sie ein geschlossenes Ganzes ist, dessen Idee und Wirkung verloren ginge, wenn es auseinander gerissen würde. Ebenso wie es für Picasso ein Postulat war, nicht in die Abstraktion zu gehen, bevor man die Naturform beherrschte, galt das auch für ihn. Ich erinnere mich, daß er in den zwanziger Jahren etliche Porträtaufträge ausführte, für großzügige, musisch veranlagte Auftraggeber, die er sehr expressiv gestaltet hat. Leider sind mir Namen und Anschriften dieser Leute nicht mehr bekannt. In seiner absoluten Malerei gelangte er in dieser Zeit zu Aussagen, die wirklich sein Persönlichstes waren. Ganz ohne Absicht entstand damals auch ein kleiner Zirkel, der sich an einem jour fixe (es war der Donnerstag) bei Pastor Mennicken in Neuss zusammen fand. Zu diesem Kreis gehörten Pastor Mennicken, Dr. Karl Schorn, Will Hall und ich. Es wurden nächtelange Diskussionen geführt, wobei man nie um ein Thema verlegen war. Pastor Mennickens besonderes Gebiet war die Vulgata, aber im übrigen hatte er ein großes Allgemeinwissen und last not least, er war ein sehr musischer Mensch. Karl Schorn war ein Dichter von Geblüt, was allein schon sein Gedicht: „Das Verhör" bestätigt, ist aber leider von den Neussern als Neusser Heimatdichter abgestempelt worden, weil er für die Stadt manchmal solche Brötchenarbeit übernahm. (Der Slogan: „Neuss, die Stadt zwischen Kohle und Korn" stammt von ihm.) Will Hall war der gute Dialektiker, der im Wortkampf jeden an die Wand boxte, der seine Taktik nicht kannte. Aber auch er hatte ein weites Allgemeinwissen und aus Intuition viel Gespür für andere Geistesgebiete, auch wenn er aus irgendeinem Grunde nicht unmittelbar Zugang dazu gehabt hatte. So ging ich’mal nachts nach einem solchen nicht endenwollenden Gespräch mit Will Hall über die Neusser Brücke (Karl Schorn und Pastor Mennicken hatten ja ihr Domizil in Neuss) nach Hause, nach Düsseldorf. Das Hauptthema an diesem Abend war Kant gewesen und Will Hall hatte sich an Rede und Gegenrede stark beteiligt, so daß man annehmen mußte, Kant und seine Philosophie seien ihm durch Lektüre vertraut, und ich war nicht wenig erstaunt, als er mir auf dem Marsch über die Brücke gestand: ich habe Kant nie gelesen. Oft endete dieser Nachhauseweg auch erst bei hellem Tag, solange war das „Sichgegenseitignachhausebringen" ausgedehnt worden, und das Garn war trotzdem nicht alle. Ich möchte nochmal zurück kommen auf das „Reiterlied", ein Produkt (eines der frühen) seiner absoluten Malerei, von dem ich oben den Anlaß des Entstehens geschildert habe. Es war von mir erworben und hing in meiner Wohnung. Jetzt kam das „Tausendjährige Reich" mit der Verfemung dieser Kunst als „entartet". Somit war das Bild in Gefahr, denn jedes Parteimitglied, daß Anstoß nahm, konnte dafür sorgen, daß es beschlagnahmt und vernichtet wurde. Will Hall hatte den besten Gedanken: sagen wir von jetzt ab, das ist die malerische Fassung des Horst-Wessel-Liedes. Also blieb es hängen und hat die 1000 Jahre gut überstanden. Nun, nach dem Kriege, konnte man wieder aufatmen. Aber als dann in den fünfziger Jahren die abstrakte Flut kam, die zum größten Teil von Epigonen gemacht war, die sich auch noch „Avantgardisten" nannten, (ich könnte sofort die Namen von wenigstens einem Dutzend nennen, die bis 1945 ganz im Sinne ihres Führers gearbeitet haben und dann plötzlich gegenstandslos abstrakt wurden) da habe ich zum ersten Mal bei Will Hall so etwas wie Resignation gespürt. Vielleicht ist es nicht uninteressant zu hören, daß ich auch einmal mit Max Ernst (es war 1960 hier in Frankreich in seinem Haus) ein Gespräch über diese Abstraktenschwemmen hatte. Er holte eine Mappe herbei, in der er Reproduktionen von abstrakten Epigonenschöpfungen gesammelt hatte. Es war tatsächlich verblüffend zu sehen, wie weit die gegenseitige Befruchtung ging. Aber das Schlimmste war, daß dieser Kitsch auch reüssierte, in vielen Wohnungen, öffentlichen Gebäuden und auch in Galerien aufgehängt wurde. Will Hall, dessen erstes Lebenswerk zerbombt war, mußte nun mitansehen, wie dieser Guano alles Wahre, alles Schöpferische zudeckte. In der Folge gab es bei ihm produktive Intervalle, die mit solchen abwechselten, die ganz der Meditation gewidmet waren.
Er hatte manche jungen Freunde, die ihn in der menschlichen Hierarchie als Lehrer ansahen, die er aber in keiner Weise an sich band, denn er hatte keine Träume von Menschheitsbeglückung, zwar hatte er un esprit pénétrant, aber es fehlte ihm l'esprit de secte.
Aus seinen letzten schöpferischen Perioden kenne ich Arbeiten, die sowohl in der Form wie auch in der Farbe eine strenge Klarheit haben, (das Wort Abgeklärtheit ist wohl zu vermeiden) eine Klarheit, die vielleicht an gute technische Zweckformen erinnert, etwas Romantisierendes, wie in seinen frühen Werken, fehlt ihnen, aber die Entwicklung ist folgerichtig und es gibt sehr schöne Werke darunter.
Diese kurze Schilderung des Menschen Will Hall und einige Gedanken zum Verständnis seines Werkes habe ich geschrieben, damit sie vielleicht Anregung geben können, dies Werk vor dem Verschwinden ins Nichts zu bewahren. Diese Gefahr ist akut, zwar gibt es nur noch den kleineren Teil des Werkes, aber auch der ist wert, daß er erhalten bleibt. — Was kann man tun?
La Mailleterie, 20. 1. 1979 Paul Loskill
WILL HALL 1897 - 1974; Gemälde, Pastelle, Gouachen, Handzeichnungen; Clemens-Sels-Museum Neuss, 6. Okt. bis 10. Nov. 1991 , Text von Dr. Gisela Götte
Porträt von Paul Loskill, Will Hall, 1940, Öl / Karton, 80 x 60 cm